Dominosteine im ländlichen Raum (Ein Kommentar)

Wir alle kennen das Spiel mit den Dominosteinen. In Reihe aufgestellt, ergeben sie eine Form, ein Muster, zur Perfektion getrieben mit den Domino-Days. Hier werden in mühevoller Arbeit tausende von Steinen in einem Bezug  zueinander aufgebaut. Fällt ein Stein, fällt das gesamte Muster.
Planung von Einkaufszentren, Gestaltung von Stadtzentren, Regionalentwicklung, überall spricht man von Synergien (sich gegenseitig ergänzenden Angeboten) oder aber von der Gefahr eines Dominoeffektes, wenn einzelne Bausteine fehlen oder wegkippen.

Welbsleben ist ein gutes Beispiel

Während der DDR-Zeit wurde Welbsleben in der heutigen Sprache zu einem Grundzentrum für das Einetal ausgebaut. Ärztehaus, neue Schule für die Region, Arbeitsplätze durch die LPG's, Restaurants, Gemeinschaftshaus, großzügige Sportanlage, breit gefächertes Ladenangebot. Wenn heute ältere Menschen sagen "früher war es besser", ist das subjektiv nachzuvollziehen. Arbeit war da, Versorgung war nicht schlecht, und was fehlte, wurde mit Beziehungen organisiert.

Mit der Wende fiel ein entscheidender Domino-Stein: Arbeitsplätze. Die logischen nächsten Steine hießen: Wegzug auf der Suche nach Arbeit, Bevölkerungsschwund in den Orten, weniger Kaufkraft, schlechte demografische Prognose, Lebensmittelgeschäfte schlossen, Gaststätten machten dicht, 2010 auch die eigenständige Gemeinde.. So verblieben innerhalb von 20 Jahren von ehemals ca. 20 Bausteinen noch deren vier oder fünf. Welbsleben ist in dieser Beziehung kein Einzelfall, viele Ortsteile der Stadt Arnstein, im Landkreis Mansfeld-Südharz, generell in den neuen Bundesländern, haben dieselbe Biografie. Aktuell nun also Schließung und Verkauf des Bankgebäudes, Verkauf der ehemaligen Kita, und bezüglich der Zukunft des Pfarrhauses liegt auch noch Vieles in der Luft.

Kommunen im Korsett der Unterfinanzierung und im Förderdschungel


Nach der Gemeindegebietsreform sind die neu formierten Einheitsgemeinden durch das Finanzministerium unter massiven Druck geraten. Bürgermeister und Landkreise sprechen von chronischer Unterfinanzierung, Kommunalaufsicht und Rechnungshöfe fordern auf der anderen Seite, Fixkosten zu senken, sich von "Altbestand" zu trennen,  also zu verkaufen. Die Definition von Pflichtaufgaben und Freiwilligen Aufgaben der Kommunen sorgt ebenfalls immer wieder für heftige Diskussionen. Am Beispiel des Investitionsplanes für unseren Ortsteil, zu finden im IGEK auf Seite 198, wird ersichtlich, dass alle diese Maßnahmen nur in Verknüpfung mit Fördermitteln und entsprechenden Förderauflagen zu stemmen sind. Die Stadt hat im Prinzip die Hauptaufgabe, aus einem Euro Investitionsbudget über Nutzung verschiedenster Fördertöpfe mindestens 4 Euro zu machen. Ansonsten lassen sich diese Vorhaben nicht realisieren.  

Wer sich interessiert, soll sich doch im IGEK ab Seite 163 die Beurteilung der einzelnen Ortsteile und den daraus abgeleiteten Handlungsbedarf anschauen.  Hier werden Stärken und Schwächen der einzelnen Orte aufgelistet und gewertet - ab Seite 188 folgt dann der Maßnahmenplan für die einzelnen Ortsteile. Alle aufgeführten  und nicht verständlichen Abkürzungen in der rechten Spalte sind EU-, Bundes- Fördertöpfe, für deren Nutzung durch die Stadtverwaltung teilweise sehr komplexe Anträge gestellt und vom Lande vorgegebene Förderrichtlinien eingehalten sein wollen. Ansonsten wird der Antrag abgelehnt. Wieviele der im IGEK im Jahre 2017 dargestellten Infrastrukturbausteine Welbslebens sind eigentlich noch physisch vor Ort? Dies als Hinweis auf das Tempo, in welchem dieser Umbruch stattfindet.

Fremdbestimmung mit unmittelbaren Auswirkungen

Darüber hinaus sind es immer wieder Entscheide auf höherer Ebene, denen Kommunen und Unternehmer  machtlos gegenüberstehen. Ein Beispiel für unmittelbaren Dominoeffekt: Wir erleben nun das vierte Jahr, in welchem die Achse Einetal-Welbsleben-Aschersleben über Westdorf, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gesperrt ist. Aller Voraussicht nach wird es 2019, bis hier wieder normale Verhältnisse herrschen. Messbar sind die Folgen für Penny in Aschersleben, welcher mit starken Umsatzeinbrüchen zu kämpfen hat. Die dortige Fleischerei bleibt bis auf Weiteres geschlossen, der Verkaufsstand für Backwaren reduzierte seine Öffnungszeiten. Klar ist, dass sich eine derart lange Sperrung für Unternehmer und Dienstleister verheerend auswirkt. Auch  für den ÖPNV und die Landwirtschaftsbetriebe entstehen massive Mehrkosten in Form von Umwegkilometern, welche irgendwoher bezahlt werden müssen.
Nun gibt es Dutzende von ziemlich sinnfreien Erklärungen dafür, weshalb eine Sanierung der Strecke Welbsleben - Aschersleben nicht zeitgleich mit der Sperrung der Langetalbrücke in Angriff genommen werden könne.  Vergabe dieser ganzen Strecke in drei oder vier Baulosen , Start im Februar, Abschluss im September. 9 Monate Sperrung sind schon empfindlich, mehr als vier Jahre Sperrung bedeuten einen klaren und folgenreichen Eingriff in die Struktur einer Region. Der Kommune bleibt dann das Zusammenkehren der Scherben.  

Was fehlt, sind die "weichen Domino-Steine"

Natürlich schmerzt es, wenn ein Laden schließt, eine Bankfiliale dicht macht. Gleichzeitig muss man sich eingestehen, dass wir deswegen nicht von der Versorgung abgekoppelt sind. Die Wege zu den nächstliegenden Discountern und Einkaufszentren wurden schon genutzt, als diese Infrastrukturen noch im Ort waren. Daneben verfügen wir (noch!) über ein ziemlich dichtes Netz an mobilen Versorgern. Im 9 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog des IGEK für die jeweiligen Ortsteile fehlt jedoch ein wichtiger Bereich, welcher als "freiwillige Aufgabe" faktisch aus der Zuständigkeit der Kommune herausgenommen und auf das Ehrenamt übertragen wurde:
  • Wo sind die offenen Treffpunkte für die ältere Generation geblieben? Gemeint sind nicht die verschiedenen Einzelanlässe, welche von engagierten Vereinen auf die Beine gestellt und rege besucht werden. Nein, Räumlichkeiten,, welche zentral gelegen als offene Treffpunkte zur Verfügung stehen? 
  • Dieselbe Frage kann man auf weitere Zielgruppen stellen: Mutter-Kind, Feierabend-Treff zum Wochenende. Kostenlos. Ehrenamtlich oder wirtschaftlich betreut. Treffpunkte für  Menschen jeden Alters, welche das schätzen? 
  • Wie sieht eigentlich die Freizeitgestaltung  der Altersgruppe 12-16 aus? Welche Angebote bestehen da?
  • Weshalb gelingt es nicht, beispielsweise Musikunterricht der Musikschulen für die meisten gebräuchlichen Instrumente in die Tagesstruktur der Schulen oder andere Räumlichkeiten zu integrieren? Stattdessen fahren Musikschüler aus dem ganzen Einetal nach Aschersleben und Hettstedt?
Die Schaffung und das Vorhalten derartiger Angebote ist nach Ansicht der Landesverwaltung keine Pflichtaufgabe der Kommunen. Gemeinden in der Haushaltskonsolidierung ist es sogar untersagt, hierfür Gelder frei zu machen. Es sind jedoch genau DIESE Punkte, welche in den Ortsteilen im ländlichen Raume schmerzlich vermisst werden.    Am Sinnvollsten nach  dieser Lesart und oft empfohlen: Gründung eines Vereins, Eigenmittel organisieren und dann dasselbe machen wie die Gemeinde. Aus einem Euro mach vier. Die EU-Töpfe machen es möglich. Für Ortsteile von Einheitsgemeinden ist dies oft der einzige Weg, wirkliche Verbesserung der Lebensqualität hereinzuholen. Dass dem so ist,  hat weniger mit der EU zu tun, sondern mit der Art und Weise, in welcher die jeweiligen Landesregierungen die Nutzung dieser Fördergelder mit der EU aushandeln. In Schleswig-Holstein beispielsweise ist es möglich, dass die Kommunen bei der Schaffung solcher weicher Bausteine sich in Zusammenarbeit mit Vereinen oder Genossenschaften direkt engagieren  - und EU-Gelder eingesetzt werden können. 

Der Anachronismus: Geförderter Strukturerhalt und -ausbau auf der einen Seite bei gleichzeitig erzwungenem Strukturabbau auf der anderen Seite.

Zurück zur Aktualität. Derzeit steht die ehemalige Kita zum Verkauf. Ein Objekt im Besitze der Stadt. Vom Raumangebot her betrachtet, lassen sich hier diverse weiche Non-Profit Dominosteine errichten. Es ist klar, dass dazu notwendige bauliche Anpassungen vorgenommen werden müssen. Genau so offensichtlich ist es, dass ein einzelner Verein ein solches Projekt schwer stemmen kann. Selbst wenn: Dann besteht die seltsame Situation, dass zuerst mal 80 000 € als Mindestangebot stehen, welche in die Stadtkasse fließen sollen,  dann im Anschluss der doppelte oder  dreifache Betrag über Fördermittel (auch wieder mit Nachweis von Eigenmitteln!) zu organisieren ist, um etwas zu erhalten oder neu zu schaffen. Das ist nicht nur ein gewaltiges ehrenamtliches Engagement sondern ein sehr schwer abzuschätzendes finanzielles Risiko. Und trotzdem ist es unter den derzeitigen Rahmenbedingungen vielfach der einzige wirklich gangbare Weg, um gemeinsame Interessen auch gemeinsam wahrzunehmen.  
Was andernorts Haus der Vereine, altersdurchmischtes Freizeitzentrum, Haus der Generationen genannt wird, im Besitze der Kommune ist und von einem Verein, einer Genossenschaft nach wirtschaftlichen Regeln  betrieben wird, erscheint in Sachsen-Anhalt unter den gegebenen Rahmenbedingungen als Bringschuld bürgerlichen und vor allem ehrenamtlichen Engagements. ...und so beißt sich die Katze in den Schwanz. Die eine Hand baut Strukturen ab, die andere baut wieder auf.

Und tatsächlich: Vielerorts wurden und werden in den Ortschaften, nachdem das Tafelsilber der Gemeinde verkauft wurde, Jahre später über private, halbprivate oder  Landesinitiativen mit EU-Förderung Objekte mit dem Ziel umgebaut, soziale oder/und infrastrukturelle Defizite vor Ort abzudecken. Eine Kombination von harten, vor allem aber auch weichen Dominosteinen. Hier die Liste der bereits realisierten Projekte.

Fazit
Die Kommunen sind nicht zu beneiden und es ist zu kurzsichtig, dort den Sündenbock zu verorten.. Zwischen Wollen und Können stehen viele Instanzen und noch viel mehr Bürokratie. Betroffen sind alle Kommunen im ländlichen Raum, wie die Protestaktionen in Mansfeld-Südharz zeigen.  Steuergelder aus Kommunen, dem Land, dem Bund fließen in erheblichem Maße in einen EU-Haushalt. Dort werden diverseste Förderprogramme erarbeitet und aufgelegt, anschließend mit den Ländern einzeln ausgehandelt. Die Landesverwaltung erstellt Förderrichtlinien für die Kommunen  und diese Richtliniengeber bewilligen dann die Förderanträge - oder eben auch nicht. Die Reibungsverluste in Form von Zeit UND Geld alleine durch dieses Heer von Sachbearbeitern auf allen Ebenen sind gigantisch und wirken vielfach im Ergebnis an den wirklichen kommunalen Bedürfnissen vorbei. Von der so laut gepriesenen Kommunalhoheit bleibt da nicht mehr viel übrig.

Natürlich gibt es auch Lichtblicke, Beispiel Stadt Arnstein: Mit der Sanierung des ehemaligen Rathauses in Sandersleben wurde und wird Raum geschaffen für vielfältige Aktivitäten, offene Angebote an die Bevölkerung des Ortes. Weiche Dominosteine. Sie federn den Fall der harten Steine, sind hilfreich und tragen oft entscheidend dazu bei, dass mittelfristig neue, bedürfnisgerechte Infrastrukturbausteine errichtet werden.

..und in Sachen harter Infrastruktur: Welbsleben profitiert ganz besonders davon, dass in unserem Ortsteil in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in  Erhalt und Ausbau der Schulinfrastruktur geflossen ist und weiterhin fließen wird. Die Stadtverwaltung zementiert hier einen solchen harten Domino-Stein.

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